Fluchtpunkt Tempelhof

Zwischen 1952 und 1961 verlassen monatlich viele tausend Menschen aus dem sowjetischen Sektor der Stadt oder aus der DDR West-Berlin in Richtung Bundesrepublik Deutschland. Auch Flüchtlinge aus osteuropäischen Staaten steuern zunächst West-Berlin an. Die Bedingungen ihrer Ausreise vom Flughafen Tempelhof wie auch die Fluchtumstände sind noch nicht hinreichend erforscht, aber die Bedeutung des Flughafens im amerikanischen Sektor lässt sich schon jetzt skizzieren.

Der Flüchtlingsstrom nach West-Berlin

Getrennte Währungsreformen in den drei Westzonen einerseits und der sowjetischen Zone andererseits vertiefen 1948 die Spaltung Deutschlands. Die Blockade aller Land- und Wasserwege in die drei Westsektoren Berlins, die Luftbrücke der West-Alliierten zur Versorgung ihrer Berliner Sektoren, das Ende einer gemeinsamen deutschen Stadtregierung durch die Verlagerung von Dienststellen nach West-Berlin und der Auszug der westlichen Stadtverordneten aus dem Stadthaus als Reaktion auf permanente Störaktionen der SED machen die Teilung von Tag zu Tag wahrscheinlicher.

Im November 1948 – noch während der Berlin-Blockade – richtet der West-Berliner Senat im Bezirk Charlottenburg die erste Meldestelle für Flüchtlinge aus der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) und dem sowjetischen Sektor von Berlin ein. Im Januar 1949 entsteht an der Kantstraße die „Zentrale für politische Ostzonen-Flüchtlinge“. Nach Angaben des Berliner Tagesspiegels melden sich dort am 5. Januar 1949 bereits 150 Menschen, die dauerhaft in den Westsektor umziehen wollen. Wer nicht bei Verwandten oder Freunden unterkommen kann, erhält nach der Registrierung einen Schlafplatz in einem Massenquartier. Für die Ankömmlinge gibt es Lebensmittelmarken der niedrigsten Kategorie. Im Juni 1949 kann in Zehlendorf das erste Übergangslager nur für Flüchtlinge aus der SBZ/DDR bezogen werden. Daneben existieren weiterhin über die Stadt verteilt diverse Massenunterkünfte.

Allein im ersten Halbjahr 1950 kommen pro Monat rund 7.500 Zuwanderer/-innen. Berlin, eine Anlaufstelle auch für Geflohene und Vertriebene aus den ehemals deutschen Ostgebieten, ist durch hohe Arbeitslosigkeit und durch dramatische Wohnungsnot im Gefolge der Kriegszerstörungen schwer belastet. Die Stadt kann und will keine „Wirtschaftsflüchtlinge“ aufnehmen. Grundtendenz der frühen West-Berliner Flüchtlingspolitik ist daher die strikte Ablehnung derjenigen, die die politischen Motive ihrer Flucht nicht überzeugend darlegen können. Am 22. August 1950 verabschiedet der Deutsche Bundestag ein „Gesetz über die Aufnahme von Deutschen in das Bundesgebiet“ – das Notaufnahmegesetz. Es bestimmt, dass eine dauerhafte Aufenthaltserlaubnis für die Bundesrepublik Deutschland nach der Meldung in dafür eingerichteten Lagern durch einen Aufnahmeausschuss erteilt wird. Diese „besondere Erlaubnis“ darf, so das Gesetz, Personen nicht verweigert werden, die „wegen einer drohenden Gefahr für Leib und Leben, für die persönliche Freiheit oder aus sonstigen zwingenden Gründen die sowjetische Besatzungszone oder den sowjetischen Sektor verlassen haben“.

In der Bundesrepublik gibt es zwei Notaufnahmelager, in Gießen und Uelzen, in denen das offizielle Verfahren durchgeführt wird. Ab 1953 werden immer mehr Flüchtlinge anerkannt. Der wirtschaftliche Aufschwung in der Bundesrepublik erleichtert ihre Integration. Unter den Bedingungen der Systemkonfrontation ist ihre Aufnahme auch eine Frage des Prestiges.

Start in die Zukunft

Im Sommer 1951 wird der Geltungsbereich des Notaufnahmegesetzes auf West-Berlin ausgedehnt. Das entlastet West-Berlin von den Kosten des Aufnahmeverfahrens und bezieht es in die Verteilung der Flüchtlinge auf die Bundesländer ein. Ab Februar 1952 kann die Stadt 80 Prozent der anerkannten Zuwanderer – 1951 sind das durchschnittlich 4 000 Menschen pro Monat – in das Bundesgebiet weiterleiten. Da der DDR aus der massenhaften Abwanderung junger, oft gut ausgebildeter Menschen großer wirtschaftlicher Schaden entsteht und die anhaltende Fluchtbewegung darüber hinaus ihre verfehlte Politik offenbart, setzt die SED-Regierung mit Hilfe des Staatssicherheitsdienstes Flüchtlinge in West-Berlin wie auch deren Familien in der DDR unter Druck.

Ein Transport der Ausgewanderten über die streng überwachten Transitwege verbietet sich also von selbst. Daher gewinnt der Flughafen Tempelhof für DDR-Flüchtlinge an Bedeutung. Der Luftweg ist die einzige unkontrollierte Verbindung zwischen West-Berlin und der Bundesrepublik, die trotz einzelner Zwischenfälle als „sicher“ gelten kann. Auf Kosten des Bundes, mit einer „Abflugportion“ aus der Bezirksküche Neukölln versorgt, werden die in Marienfelde anerkannten Flüchtlinge von Tempelhof ausgeflogen. Ist der Andrang allzu groß, ordnen die West-Berliner Behörden auch den sofortigen Abflug von gerade Angekommenen an. Abhängig von der innen- und außenpolitischen Entwicklung steigen die Flüchtlingszahlen in den 1950er Jahren deutlich an, obwohl anfangs etwa zwei Drittel aller Anträge auf eine Aufenthaltserlaubnis für West-Berlin und die Bundesrepublik abgelehnt werden.

Am 26. Mai 1952 schließt die DDR-Regierung die innerdeutsche Grenze und lässt eine fünf Kilometer breite Sperrzone entlang der Demarkationslinie zur Bundesrepublik anlegen. Das letzte Schlupfloch für den Weg in die Bundesrepublik Deutschland ist danach das geteilte Berlin. 1953 kann in West-Berlin mit Unterstützung des Bundes das Notaufnahmelager Marienfelde eröffnet werden. Es verzeichnet bis 1961, dem Jahr des Mauerbaus, einen Zugang von 4 000 bis 21 000 Menschen pro Monat.

Erreichen nach dem 13. August 1961 noch 20 000 Flüchtlinge West-Berlin, sind es im ganzen Jahr 1962 nur noch 3 614. Dieser Rückgang äußert sich auch im Berlin-Verkehr der alliierten Luftfahrtgesellschaften. Die Maschinen von Pan American Airways und British European Airways sind nun nicht mehr ausgelastet. Aus Sicht der Airlines werden Kürzungen im Flugplan notwendig. Die Bundesregierung springt mit einer Fluggast-Subvention ein und kann damit bereits zum Sommer 1962 die Nachfrage nach Berlin-Flügen wieder deutlich steigern.

Auf dem ehemaligen Flughafengelände am Tempelhofer Damm erinnert noch immer die „grüne Baracke“, das heute als „Gebäude 500“ markiert ist, an die vielen tausend DDR-Flüchtlinge, die von hier aus in die Bundesrepublik und damit in eine neue, auch ungewisse Lebensphase gestartet sind. Die Details der Funktion und Nutzung werden zurzeit erforscht.

Die LOT – „Landet oft in Tempelhof“

Nicht Startpunkt, sondern Ziel ist der Flughafen Tempelhof für eine andere Gruppe von Flüchtlingen, über die es bisher nur wenige gesicherte Kenntnisse gibt: Flugzeugentführer, die aus oder über Polen kommend auf dem Flughafen im amerikanischen Sektor landen. Bis 1993 wird Tempelhof als Militärflughafen der US Streitkräfte genutzt. Die Amerikaner gelten nicht zuletzt wegen des Umfangs ihrer in Berlin stationierten Truppen in der Bevölkerung als politisch verlässlich. Der US Stadtkommandant ist im Krisenfall Oberbefehlshaber aller alliierten Truppen in West-Berlin, „sein“ Flughafen ist nur 80 km von der polnischen Grenze entfernt.

Zwischen 1963 und 1983 sind 13 Entführungen dokumentiert; Zeitungen berichten sogar über knapp 20 Fälle. Die Amerikaner bringen diese Fluchten in Verlegenheit; denn juristisch handelt es sich meist um zu ahndende Luftpiraterie. Im Juli 1963 entkommt ein Major der polnischen Luftwaffe mit seiner Frau und zwei Kindern in einer Propellermaschine Typ TS 8. Weil er als Ausbilder mit der Überwachungstechnik in Polen wie in der DDR bestens vertraut ist, bewältigt er die Stecke im Tiefflug. Mit seinem kunstflugtauglichen kleinen Schulflugzeug hat der polnische Major das Aufsetzen auf Autobahnen trainiert. So landet er ohne Kontakt zum Tower auf dem Taxiway des Flugplatzes und bittet um politisches Asyl. Für das Time Magazine vom 19. Juli 1963 ist er der erste Flüchtling, der West-Berlin durch die Luft erreicht hat.

Eine zweite spektakuläre Flucht, die ein großes Medienecho, literarische und filmische Bearbeitung erfahren hat, ist die Entführung einer LOT Tupolew 134 im August 1978. Auf dem Flug von Gdansk zum Ost-Berliner Flughafen Schönefeld bringt ein DDR-Bürger eine Stewardess in seine Gewalt und zwingt den Piloten zur Landung in Tempelhof. Außer dem Entführer und seiner langjährigen Bekannten, mit der er nach einer Unzahl von abgelehnten Ausreiseanträgen die Flucht geplant hatte, bleiben weitere DDR-Bürger in West-Berlin. Die Amerikaner lehnen ein polnisches Auslieferungsersuchen ab, stellen die beiden aber vor ein amerikanisches Gericht.

Der United States Court for Berlin tritt unter Richter Stern im Flughafengebäude zusammen. Während das Verfahren gegen die Frau wegen eines Formfehlers eingestellt wird, verurteilt eine Jury aus zwölf deutschen Geschworenen – alle sind Bürger des amerikanischen Sektors – den Flugzeugentführer wegen Geiselnahme zu einer Haftstrafe von neun Monaten, die durch die Untersuchungshaft abgegolten ist. In den Anklagepunkten Angriff auf den Luftverkehr, Freiheitsberaubung und Körperverletzung plädiert die Jury auf „nicht schuldig“.

Der Angeklagte hatte eindrücklich seine Notlage geschildert: Ursprünglich wollten die beiden mit gefälschten Pässen über Gdansk per Schiff nach Travemünde fliehen. Als der westdeutsche Freund mit den Ausweispapieren in Gdansk nicht erscheint, glaubten sie (zu recht) ihre Fluchtpläne verraten, sahen keine Möglichkeit zur Rückkehr in die DDR und hatten deshalb mit einer Schreckschusspistole bewaffnet die LOT-Maschine entführt.

 

St. Endlich, M. Geyler-von Bernus, B. Rossié

 

Literatur

Wolfgang Benz, Auftrag Demokratie. Die Gründungsgeschichte der Bundesrepublik und die Entstehung der DDR 1945-1949, Berlin 2010

Laurenz Demps, Carl-Ludwig Paeschke, Flughafen Tempelhof. Geschichte einer Legende, Berlin 1998

Bettina Effner, Helge Heidemeyer, Flucht im geteilten Deutschland, Berlin 2005

Helge Heidemeyer, Flucht und Zuwanderung aus der SBZ/DDR 1945/1949-1961.

Die Flüchtlingspolitik der Bundesrepublik Deutschland bis zum Bau der Berliner Mauer, Beiträge zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien, Bd.100, Düsseldorf 1994

Elke Kimmel, „… war ihm nicht zuzumuten, länger in der DDR zu bleiben.“ DDR-Flüchtlinge im Notaufnahmelager Marienfelde, Berlin 2009

Hans Przychowski, Luftbrücken nach Berlin. Der alliierte Luftverkehr 1945-1990, Berlin 1996